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Die Macht der Filmmontage

Reden wir über das am meisten unterschätzte Filmwerkzeug, das allerdings schon immer eine große Wirkung auf das Publikum hatte: die Montage. Sie wird leider von einigen Kritikern unterschätzt, obwohl sie manche Filme sogar rettete oder gar veredelte. Schauen wir uns die aufregende editorische Wirkmacht der Filmmontage genauer an.
Essay von Daniel Zemicael


"Der Mann mit der Kamera" (1929) von Dsiga Wertow

 

Bevor Spike Lee den furiosen Film »Da 5 Bloods« (2020) herausbrachte, lief sein Kurzfilm »3 Brothers« in allen möglichen sozialen Netzwerken. Der Regisseur montierte Szenen aus seinem Klassiker »Do The Right Thing« – in dem ein junger Schwarzer von der Polizei ermordet wird – mit zwei ähnlichen Aufnahmen von Eric Garner und George Floyd, die aus der Realität stammen. 


Auf dem YouTube-Kanal »Double Toasted« meinte der Filmkritiker Korey Coleman, dass er es nicht verstehen könne, warum viele Leute diesen Kurzfilm so kraftvoll fanden. Er sagt: „People sending me these Videos Are like: ‚You See Spike Lee did? Oh My God, isn’t moving, isn’t so Powerful?‘ Its Fucking YouTube Video that he put together from footage online already. Tell the motherfucker Make a Movie and then come to me .... and he did!“ 


Das klingt witzig, zeigt allerdings eine tiefe Unwissenheit über ein Filmwerkzeug, über das viel gesprochen und vor allem geschrieben wurde. Die Filmmontage war schon einmal präsenter im Diskurs und vor allem war sie geschätzter, als es heute der Fall ist. Dabei ist die Filmmontage das Herz des Kinos.

Der Editor Barry Alexander Brown und Spike Lee

 

„Das Wesen des Films liegt in der Verkettung der gefilmten Fragmente, nicht innerhalb der einzelnen Fragmente.“

Die Annahme, dass der clever montierte Kurzfilm von Spike Lee von Coleman lapidar als Fingerübung und als nicht sonderlich interessant dargestellt wird, zeigt die Unkenntnis mancher Kritiker über das Medium Film. Das Problem ist unter anderem, dass der Titel „Filmkritiker“ leider kein eingetragener Beruf ist; so kann es geschehen, dass irgendein Journalist oder Blogger plötzlich dem Resort der Filmbesprechung zugeteilt wird. 


„Leider“ deswegen, weil die Inkompetenz der sogenannten Filmkritiker zum Himmel schreit, da viel lieber mit Sternbewertungen und Kritiker-Phrasen herumgewirbelt wird, als irgendeine Expertise mitzubringen. Der Kern dieser Kompetenz setzt unter vielen anderen Kompetenzen eines besonders voraus:


Kenntnisse über die Filmgeschichte. Und das, liebe Leser, haben leider – um im Jargon von Korey Coleman zu bleiben – erstaunlich wenige dieser „Motherfucker“ auf dem Schirm. Filmkritik heißt auch, sich mit der Kunstform des Films auseinanderzusetzen. Und da spielt die Filmmontage eine erhebliche und gewichtige Rolle.

Lew Kuleschow

 

Wenn wir zurück in die 1920er Jahre blicken, sehen wir, dass viel über die Montage geschrieben und filmisch experimentiert wurde. Lew Kuleschow ist der Pionier der Filmmontage und der Erste überhaupt, der demonstrierte, dass eine gewisse Abfolge von Bildern imstande ist, Emotionen beim Zuschauer zu wecken. Der berühmte Kuleschow-Effekt war so simpel wie genial: Er filmte den Star des russischen Schauspiels, Iwan Mosshuchin, wie dieser ohne Ausdruck in die Kamera schaut; dann werden Bilder von einem gefüllten Teller, einem toten Kind und einer Frau auf dem Sofa zwischengeschnitten. Obwohl der Gesichtsausdruck immer derselbe blieb, interpretierte das Publikum jedes Mal eine andere Reaktion des Schauspielers. Alfred Hitchcock erläuterte diese Technik – mit seinem unnachahmlichen Humor – indem er selbst den Mann mimte, der auf verschiedene Bilder gleich reagierte. Was Kuleschow schuf, war wie ein Beleg, dass das Kino zu einer eigenen Sprache fand. Doch das waren noch die Kinderschuhe des Mediums, aber die 20er Jahre wurden zu einem Labor filmischer Experimente, das sich gewaltig schnell weiterentwickelte.

Hervorzuheben ist da Walter Ruttmann, der den dokumentarischen Stumm- und Experimentalfilm „Berlin – Sinfonie der Großstadt“ (1927) schuf, in dem der Tag in der Großstadt vom Morgen bis zum Abend filmisch begleitet wird. Das erinnert an den berühmteren russischen und zugegebenermaßen furioseren Film „Der Mann mit der Kamera“ (1929) von Dziga Wertow. Dieser im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Film, der keine Sekunde langweilig ist, obwohl er im Grunde den Alltag der Stadtmenschen zeigt, ohne einen Protagonisten, ohne Dialog, ohne narrative Handlung – das muss einer der heutigen Trittbrettfahrer aus Hollywood erst einmal nachmachen. Ein Schüler Kuleschows war der weltberühmte Montage-Großmeister 
Sergej Eisenstein. Der Vater des sowjetischen Kinos, das sozialistische Genie, ist heute vor allem wegen seines Meisterwerks „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) ein Begriff in der Filmgeschichte. Doch er war auch wohl der bekannteste Theoretiker, wenn wir über Filmmontage sprechen.

Eisensteins Ansicht nach sollte die Montage ein dialektisches Prinzip besitzen. Gerade wenn es um Gegensätze ging, schuf Eisenstein Bemerkenswertes, wie das Aneinanderreihen von zwei unterschiedlichen Aufnahmen, die erst in Kombination eine komplett neue Bedeutung bekommen. Für ihn war die Montage die wichtigste Technik des Films. Erst wenn man sich „Panzerkreuzer Potemkin“ anschaut, der ein wahres und elektrisierendes Feuerwerk an Bildern darstellt, sieht man erst, wie mächtig die Filmmontage sein kann und wie ein Film ohne Worte bis heute so atemberaubend wirkt.

Ein Atemberaubender Film:

"Panzerkreuzer Potemkin" (1925) von Sergej Eisenstein

Die Nachfahren der großen Meister

Es sind die Editoren, die neben den Drehbuchautoren am wenigsten beachtet werden. Das fängt schon bei der Bezeichnung an. Der Begriff „Cutter“ wird heute noch verwendet, doch gerade in Deutschland tun sich die Verantwortlichen für den Schnitt zusammen, um den Begriff „Editor“ durchzusetzen. Da der Beruf nicht nur aus Szenenschnitt besteht, sondern sehr wohl einen künstlerischen Aspekt besitzt, müssen Editoren dennoch im Schatten der Schauspieler und Regisseure ihr Dasein fristen.

Dennoch gibt es auch Oscarauszeichnungen für den besten Schnitt. Die erste Frau, die eine solche Auszeichnung bekam, war Anne Bauchens, die Stammeditorin von Cecil B. DeMille. Thelma Schoonmaker editierte alle Martin-Scorsese-Filme seit „Wie ein wilder Stier“ (1980) und gewann bis heute drei Oscars. Der Brite und in Deutschland lebende Andrew Bird editierte alle Fatih-Akin-Filme und genießt hohes Ansehen in der Branche. Auch Spike Lee arbeitet so gut wie immer mit seinem Editor Barry Alexander Brown. David Brenner, der für Oliver Stone die wirbelsturmartigen, suggestiv aufregenden Bilderinfernos montierte, arbeitete ganze neunmal mit dem Enfant terrible Hollywoods.

Dennoch dringen die Editoren nie in die Öffentlichkeit. Editoren leben im Hintergrund, sie sind keine Stars, erleben wenig vom Ruhm und der Anerkennung des Kinopublikums. Das sollte sich ändern, da erst der Editor im Schneideraum das riesige Konvolut an Takes zu einem, im besten Fall, virtuos montierten Endergebnis führt. Deswegen sollten wir mehr an die Editoren denken, die hinsichtlich der Entstehung eines Films maßgeblich entscheidend sind. Vielleicht aus diesen Gründen wollte Quentin Tarantino, dass seine Schauspieler vor jedem Take zunächst Sally grüßten. Sally Menke war die Editorin aller Tarantino-Filme bis 2010. Diese Art der Wertschätzung ist nicht nur rührend, sie zeigt auch, wie wichtig diese Funktion ist.

Gerade heute können wir sehen, wie der Film uns beeinflusst hat, denn auch die sozialen Medien greifen gerne auf die Filmmontage zurück. Diese ist mit ihren Bildern meist schneller als jedes Wort und deshalb so bevorzugt in unserer schnelllebigen Zeit. Besonders hervorzuheben ist der erst kürzlich erschienene Clip auf Instagram, in dem das glanzvolle Filmfestival in Cannes mit seinen hochkarätigen Stars auf dem roten Teppich flaniert, während im Gegenschnitt das zerbombte Gaza mit hungernden und verzweifelten Kindern zu sehen ist. Auf der Überschrift des Clips ist zu lesen: „Same Planet, Different Worlds“. Das sollte man mal Korey Coleman präsentieren und immer noch fragen, ob eine Montage vielleicht doch wirkungsstark sein könnte.

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